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Igor Olinewitsch: Die Korporation Belarus

(Quelle: http://liberadio.noblogs.org/?p=1258)

[Übersetzung aus dem Russischen: Ndejra.

Vorwort d. Ü.: Da sich gerade eine Gruppe zusammenfindet, die sich mit der Übersetzung des Buches „Ich fahre nach Magadan“ von Igor Olinewitsch beschäftigen wird, sind alle, die mitwirken wollen, herzlich eingeladen, sich bei innerself/at/subvertising(punkt)org zu melden.]

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Belarus ist ein Familienunternehmen mit Jahreseinkommen von einigen zehn Milliarden Dollar (zum Vergleich: der jährliche Gewinn von Intel – 15 Mrd., von Apple – 45 Mrd. US-Dollar). An der Spitze steht der Direktorenrat, bestehend aus Minister*innen und Ausschussvorsitzenden im Ministerrat. Das sind keine Eigentümer*innen, das sind nur die Top-Manager*innen. Jede*r von ihnen kann morgen wieder niemand werden. Der echte Eigentümer ist nur einer – die Familie. Der mittleren Etage des korporativen Managements (die Etage der Projektmanager) gehören ca. 1.000 Menschen an. Das sind Menschen, in deren Händen immerhin eine bestimmte Macht liegt. Die unterste Etage – das ausführende Personal, d.h. diejenigen, die die Politik der Korporation vor Ort umsetzen – das ist die eigentliche politische Klasse des Landes.

Der Apparat soll die zwei wichtigsten Aufgaben der Korporation erledigen:

  1. inventarisieren, kontrollieren, Abgaben vom gesamten Wirtschaftsleben im Lande eintreiben;

  2. für Sicherheit der Korporation und gesellschaftliche Unterdrückung sorgen.

Die ertragsreichsten Branchen der Korporation sind Verarbeitung und Weiterverkauf russischen Öls und von Ölprodukten, kaliumhaltigen Düngers, Produkte des Maschinenbaus und der Fleisch- und Milchwirtschaft, Produkte der Chemieindustrie. 80% alles Eigentums gehört dem Staat, 20% dem privaten Sektor. Der private Business ist effektiver als die Staatsunternehmen, aber die Familie hindert sein Wachstum mit allen Mitteln. Erstens, aus dem Staatseigentum ist einfacher zu klauen. Die größten Stücke kriegt direkt die Familie. Zweitens, der Apparat der Korporation hat seine Interessen. Außer der korporativen Ermäßigungen und Privilegien möchte das administrative Personal im Gegenzug für seine Loyalität ein Teil des Profits bekommen. Gebrauch wird vom legalen und illegalen Raub, Schmierereien, Unteraufträgen, Seilschaften usw. gemacht. Die Familie muss das in Kauf nehmen. Drittens, obschon Privatisierung blitzschnelle Profite verspricht, führt sie zum Anwachsen des Bürgertums, d.h. privater Rechtspersonen und individueller Unternehmer*innen. Die Gefahr liegt darin, dass die Bourgeoisie (ihrem Wesen nach) mit niemand teilen und deswegen notwendigerweise den Joch der Familienkorporation abstreifen will. Wenn sie zahlreich ist, über Möglichkeiten, über Willen und Mittel verfügt, versucht die Bourgeoisie sich mit liberalen politischen Bewegungen und/oder einem Teil des Apparats zu verbandeln. Das Ziel ist – die Familie zu stürzen und ein kollegiales Regierungssystem für den Apparat, sprich das Parlament, zu installieren. Den privaten Sektor abschaffen, kann die Familie nicht, denn der Kommerz ist ihr Arbeitstier, mit dem Löcher in der Wirtschaftsbilanz gestopft werden.

 Ganz unten, unter dem korporativen Apparat und den Wirtschaftssubjekten befindet sich die Bevölkerung, die als Weißruss*innen bezeichnet wird. Sie besitzt gar nichts, denn sie hängt größtenteils vom Budget und den Staatsunternehmen ab. Die Bevölkerung bereitete der Korporation schon immer Kopfschmerzen, weil sie immer nach Zuwendungen in Form von Gehältern, Ermäßigungen, medizinischer Versorgung, Transport, Bildung und Freizeit verlangt. Problematisch wird es, wenn die Massen Unzufriedenheit zeigen. Im Prinzip sind die Unzufriedenheit und Unruhen für die Korporation nicht gefährlich. Sie können problemlos von Sicherheitskräften unterdrückt werden. Alleine das Innenministerium (MWD) hat 14,5 Mitarbeiter*innen pro 1.000 Einwohner*innen. Aber die Bourgeoisie und die liberalen politischen Kräfte könnten die Unruhen für sich nutzen. Das ist der Grund, warum die Familie mit allen Mitteln jegliche Regungen der Zivilgesellschaft erstickt, verhindert die Entstehung fester liberaler Kräfte, indem sie heimlich aktive Funktionär*innen in der Bourgeoisie und in der Opposition unterdrückt (z. B. durch Kündigungen, Überprüfungen der Buchhaltung usw.).

Die Unruhen in der Bevölkerung sind ein Ding der Permanenz. In ihrer Logik sieht die Kette folgendermaßen aus: Unzufriedenheit – Unruhen – Streiks – Aufstand – Revolution. Am meisten fürchtet die Korporation nicht ein mal den liberalen Einfluss auf die Bevölkerung, sondern die Enttäuschung der Massen von überhaupt irgendwelchen Kräften. Versteht die Bevölkerung ein mal, dass alles um sie herum von ihr selber hervorgebracht wurde, dass ohne einfache Arbeiter*innen die Chef*innen ihre Bedeutung verlieren, spürt sie einmal ihre Stärke – in dem Moment verwandelt sich die Bevölkerung in ein Volk. Das Volk ist eine Gemeinschaft, die sich selber, ihrer Rechte und ihrer Interessen bewusst ist. Weh’ dann jeder Herrschaft!

Alle Poliker*innen zu allen Zeiten schielten ängstlich auf die „Volkskarte“ in ihren Spielen. Die Kehrseite dieser Karte ist die soziale Revolution und sie lässt sich durch nichts außer durch den fürchterlichsten Terror zähmen. Darauf sind die Bonapartist*innen in der Französischen Revolution und auch die Bolschewiki gestoßen. Lenin und Trotzki meinten doch nicht umsonst, dass Volksaufstände für sie gefährlicher waren als alle weißen Armeen zusammen!

Und aus diesem Grund unternimmt die Korporation alles, damit die Bevölkerung gleichgültig gegenüber der Politik bleibt. Deswegen ist die zweite Funktion der Korporation das Gewährleisten der eigenen Sicherheit und die soziale Unterdrückung.

In der Korporation gibt es spezielle Institute, die mit den modernsten wissenschaftlichen Mitteln den eventuellen Einfluss der wirtschaftlichen Schwankungen auf die Stimmungen der Bevölkerung verfolgen. Durch geschicktes Manipulieren der Zahlen im Bereich der Sozialpolitik gelingt es der Korporation Jahr für Jahr die relative Gleichgültigkeit herzustellen. Einer von diesen Mechanismen – das Komitee für staatliche Kontrolle, das konkrete Anweisungen von oben erhält. Das sind aber Einzelheiten. Im Großen und Ganzen, oktroyiert das System der sozialen Unterdrückung der Bevölkerung auf:

  • konformistische Werte, wenn Menschen Angst haben und sich schämen, nicht so zu denken, wie alle anderen;

  • konsumistische Werte, wenn das persönliche Wachstum an das Niveau der genutzten materiellen Güter gekoppelt wird;

  • national-patriotische Werte, wenn durch das Hypostasieren der Kollektivgefühls beigebracht wird, die Symbole der Korporation zu lieben, die Einheit mit ihr zu verspüren, sich mit der herrschenden Klasse zu identifizieren, in der Bevölkerung anderer Länder offene und heimliche Feinde zu sehen.

Die soziale Unterdrückung schließt in sich das künstliche Aufrechterhalten des Defizits (damit’s kaum ausreicht), eines Gefühls der stetigen inneren und äußeren Bedrohung ein, um die Menschen vom Verstehen ihrer wirklichen Probleme und Ursachen, die diese Probleme hervorbringen, abzuhalten.

Außer dem Aufzwingen von destruktiven Werten, außer der tagtäglichen Verdummung und Lügen durch Massenmedien, betreibt die Korporation eine aktive Politik der Alkoholisierung und Narkotisierung der Bevölkerung. Das Erste geht legal, mittels des Handelsmonopols auf Alkohol und Tabak. Das Zweite – illegal, durch das Decken von Laboratorien, Zulieferkanälen und Vertriebsnetzen (genau so ist es!). Das bedeutet sowohl großes Geld als auch ein nützliches gesellschaftliches Werkzeug.

Im Idealfall möchte die Familie verfügen über:

  • einen absolut loyalen und störungsfreien korporativen Apparat;

  • eine ergebene Bourgeoisie, die immer zu Abgaben bereit ist;

  • eine formelle, lebensunfähige Opposition, als Aushang für die „zivilisierte Welt“;

  • eine hörige Meute statt eines Volkes, die sich im Zustand der völligen Degeneration befindet.

 Die Menschen sind für die Korporation nur Wegwerfmaterial. Eine nötige Anzahl an prinzipienlosen Karrierist*innen lässt sich immer finden, die bereit sind über Leichen zu gehen und sich der herrschenden Klasse anzuschließen, wenn sie die dafür nötige Ausbildung bekommen und ihr Gewissen von sich abstreichen. Die Anderen dürfen degenerieren, auswandern…

Und trotz aller Tricks der gesellschaftlichen Manipulation, der kulturellen Nivellierung, der Kopplung an der Staatssektor, bleibt das Hauptinstrument der Unterdrückung der Bevölkerung das Strafverfolgungssystem, d.h. operative Untersuchung, Ermittlung, Staatsanwaltschaft, Gerichte und „Resozialisierungs“-anstalten. Oben wurden gerichtlich-untersuchungstechnische Mechanismen detailliert betrachtet. (1) Ihre Funktionslogik braucht immer und immer wieder neue Akte, was ihr eigenes ununterbrochenes Funktionieren garantiert. Das Gefängnissystem bringt eine Rückfallquote von 45% (mindestens!) hervor. Offensichtlich ist, dass das System die Kriminalität reproduziert, um weiter zu bestehen. Unsere Schicksale dienen als Treibstoff für Repressionsorgane. Freilich, die oben angeführten Thesen erklären nur die Funktions- und Selbsterhaltungsprinzipien dieses Mechanismus. Worin besteht aber die Unterdrückung, was für ein gesellschaftlicher Effekt wird dadurch erreicht? Es scheint, als hätten die Repressionsorgane Interesse an einem „schnellen Kreislauf“: vom Bürger*in-Status zum Inhaftierten-Status, immer und immer wieder, d. h. es wäre doch besser, die Rückfalltäter*innen nur kurz einzusperren, damit sie wieder schnell frei werden, neue Taten begehen (oder man könnte ihnen fremde Taten anhängen), ein neuer Prozess starten und die Sache auf gewohnten Wegen gehen könnte. Und tatsächlich, Berufsstraftäter*innen oder die, die kriminelle Lebensweise angenommen haben (sie nicht als Handwerk beherrschen) (2), und die Verblödeten kriegen relativ milde Strafen.

 Dabei ist eine beträchtliche Zahl an „Erstgänger*innen“, deren Vergehen mit der organisierten Kriminalität an sich nichts zu tun haben, bekommen drakonische Strafen, was im Kontext des Repressionssystems selbst nicht zu verstehen ist. Wozu? Die Antwort wird klar, wenn man das Bild der sozialen Politik der Korporation mir dem Bild der psychologischen Typen der so genannten Schwerverbrecher*innen (von 3-6 Jahren und mehr, bis 20-25 Jahren Freiheitsentzug) zusammen bringt. In ihrer Masse – das fällt jedem/jeder auf – sind das eher aktive, Initiative ergreifende, schlauere, originellere, und was wichtiger ist, prinzipiellere Menschen, als der/die Durchschnittsbürger*in des Landes. „Kleinigkeiten“ bekommen entweder die Profis (von ihnen gibt es nur ganz wenige, sie lassen sich selten erwischen) oder (die absolute Mehrheit in dieser Kategorie) geistig Behinderte, Säufer*innen, sozial Abgestiegene, oder einfache, aber schlichte Menschen, die aus Dummheit, Missverständnis oder durch Willkür hereingeraten sind. Anders gesagt, die „Schwerverbrecher*innen“ sind meistens Menschen, die zur Tat, zum Risiko fähig sind, die wissen, was sie wert sind, und bereit sind für ein besseres Schicksal zu kämpfen, auch wenn’s nur für sich selber. Das ist der passionierte Teil der Gesellschaft, der ansonsten in dieser Gesellschaft einen wichtigen Platz einnehmen würde.

 Die bewussten Bürger*innen vereinzelt zu unterdrücken, die potenzielle Bourgeoisie, soziale Aktivist*innen, politische Funktionär*innen, Arbeiteranführer*innen ist ein mühsamer und unsicherer Prozess. In Bezug auf das Ziel der gesellschaftlichen Unterdrückung, wäre es effektiver, die aktiven Kräfte der Gesellschaft als Ganzes en masse zu ersticken. Genau das wird durch die Mikro-Herausnahme (die Verurteilung eines Menschen für eine längere Strafe unter einem angeblich guten Vorwand) der aktiven, im breitesten Sinne des Wortes, Individuen erreicht. Das kann Korruption, wirtschaftliche Zweckentfremdungen und die berüchtigte organisierte Kriminalität oder Mord sein. All diese Menschen sind potenziell gefährlich für die Korporation selbst, weil über stärker ausgeprägte Intellekt oder Willensstärke verfügen. Dank der langfristigen Isolierung im Straflager fällt der Mensch aus dem Leben heraus und kann nicht mehr das erreichen, was er vielleicht mal erreichen könnte: Jemand bricht zusammen, jemand wandert aus, jemand verliert die Gesundheit. Es gibt so einen Begriff – „die Unterdrückung der Intelligenz“ – für einen Völkermord. Darauf will ich hinaus, ich verstehe das nur etwas breiter: als Unterdrückung der aktiven Kräfte der Gesellschaft überhaupt.

 Und nun, zum Massencharakter dieser Methode. In 20 Jahren haben im Land nicht weniger als… eineinhalb Millionen Männer eingesessen! Insgesamt sind, die „Chemiker*innen“ (3) und Arbeitskolonien u.Ä. inklusive, durch das Strafvollzugssystem nicht weniger als 1,2 Mio. Menschen gegangen, meistens Männer, d.h. 60-70 Tausend Verurteilten jährlich. Und das bei der Anzahl der arbeitsfähigen Männer im Lande von 2-2,5 Mio.! D.h. jeder zweite Mann hatte mit dem System zu tun und jeder fünfte (20%) wurde in den Gefängnissen bearbeitet. Die Nazis waren der Meinung, dass bei der Auslöschung von 15% der Bevölkerung reproduktiven Alters ein Volk degenerieren würde. Trotzki schlug bei der Bekämpfung der Kosaken-Aufstände in der Ukraine vor, denselben Prozentsatz der männlichen Bevölkerung zu vernichten. Wie kann man sonst diesen „Zufall“ deuten? Oder weiß die Korporation selber nicht, was sie macht? Sie verstehen alles perfekt, weil sie für ihren Machterhalt zu allem bereit sind!

 Man sagt, die Weißruss*innen wären „doof“, nichts Anständiges, alles für den Arsch. Wie denn anders, wenn man eingesperrt wird und zwar massenhaft? Wir können sehen, wozu diese Mikro-Herausnahmen in den 20 Jahren geführt haben: Die Entwicklung der Gesellschaft ist ins Stocken geraten, eine armselige Kultur, Sittenverfall, die Verwässerung des Anstands, Massengleichgültigkeit, kein Widerstand gegen die Obrigkeit. Da ist er – der geistige Völkermord. Aber kaum man den Würgegriff lockert, sieht man, wie der Geist sich erholt.

 Während der Zeit, in der die Korporation existiert, hat das Repressionssystem eine gewisse Evolution durchgemacht. Zu diesem Zeitpunkt hat es vollständig das Können und die Erfahrungen der Tscheka-OGPU-NKWD (4) auf dem Niveau der 1930er Jahre, d.h. bis zum Vorabend der totalen Erschießungen und der bekanntesten Prozesse der Stalinzeit. Die verblüffende Ähnlichkeit vieler Etappen der Entwicklung der Repressionsorgane jener und unserer Zeit lässt keinen Platz für Zweifel, dass die Familie ihre Politik auf den Erfahrungen und Methoden Stalins aufbaut. Allerdings wurde die Bewunderung für diese Person (wie auch für Hitler) niemals verheimlicht.

 Stalin fing damit an, dass er seine unmittelbaren Konkurrenten beseitigte, in erster Linie Trotzki und seine Mitstreiter*innen. Etwas später rollte die Kollektivierung und die Kampagne gegen Großbäuer*innen an. Die so genannten „Kulaki“ (Großbäuer*innen) wurden zum Tod in sibirischen Sondersiedlungen, und ihr Brot wurde ins Ausland verkauft. Währenddessen fand die Hetze gegen die politische Opposition, ehemalige Trotzkist*innen, „Fraktionist*innen“, Abweichler*innen usw. statt. Trotzdem ging das damals noch relativ milde aus: 3 Jahre Verbannung war die härteste Strafe, was im keinen Vergleich mit der parallel stattfindenden faktischen Auslöschung der Bauernschaft. Mitte der 30er Jahre gab es immer mehr „Schädlinge“, im Laufe der Industrialisierung wurden immer mehr Menschen wegen der „Schädigung des sozialistischen Eigentums“ verurteilt. Dann verwandelten sich allmählich die „Schädlinge“ in „Saboteur*innen“, der Mechanismus schaukelte sich hoch. Das Markante an der Sabotage waren Kollektivprozesse gegen technische Facharbeiter*innen. Es fehlte nur noch, dass jemand die „Saboteur*innen“, „Diversanten“ und „Terrorist*innen“ politisch „anführte“. Dieser berühmte, unerhörte Schritt wurde mit der Ermordung Kirows (5) gemacht. Da fingen die Repressionen statt, die unter dem Namen „das Jahr 1937“ bekannt sind: Prozesse gegen die Prompartei (6), gegen Sinowjew-Kamenew, Pjatakow-Radek (7), die Säuberungen in den Repressionsorganen selber (Jagoda, Jezhow) (8), danach im Militär (Tuchatschewskij und andere). (9) Die am meisten benutzten Bezeichnungen für die Angeklagten waren – „Agenten des weltweiten Imperialismus“, „Volksfeinde“, „die 5. Kolonne“ usw.

Die Familie hat mit der Liquidation von direkten und tatsächlich gefährlichen Feinden (Sacharenko, Gontschar, Krassowskij) (10) und der Niederschlagung de Parlaments. Etwas später wurde die organisierte Kriminalität zerschlagen. Der „Landesaufseher“, der „Dieb im Gesetz“ (11) Schawlik, wurde ermordet, den anderen wurde das Ultimatum unterbreitet, binnen 24 Stunden das Land zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war eine groß angelegte Razzia gegen die organisierte Kriminalität abgeschlossen, der „Swjetlogorsker Prozess“. Auffällig ist, dass die Anzahl der beteiligten Personen für eine wirklich große kriminelle Struktur ziemlich klein war: 15 Menschen. Die höchste Strafe betrug 15 Jahre Haft.

igorDas erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch die Niederschlagung und Hetze gegen die Opposition, der kontinuierlichen Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, Exmatrikulationen von Demonstrationsteilnehmer*innen von den Hochschulen. Dem Unternehmertum versprach man „2010 die Hand zu schütteln“ und raubte es beinahe aus. 2006 gab es erste berühmte politische Gefangenen, die Gefahr der „Chemie“ wurde ganz real. Zum ersten Mal verurteilte man Menschen für „Taten im Namen einer nicht registrierten Organisation“. Solange waren das nur Einzellfälle. Zu dieser Zeit waren die Repressionsorgane völlig mit der Kriminalität beschäftigt. Obwohl es nicht ganz klar ist, woher sie in dieser Intensität nach der Niederschlagung in der 90er Jahren kam. Diese Zeit könnte man ruhig als eine „Ära der organisierten Kriminalität“ nennen. Ich muss erklären, organisierte Kriminalität bedeutet Mafia, d. h. eine Struktur, die aus verschiedenen Abteilungen mit jeweiligen Spezialisierung, von bewaffneten Trupps bis Rechtsanwälten und Bürokraten. Der KGB und die UBOP (Abteilung der Polizei zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption) wollten sich keine große Mühe machen und fabrizierten eine mafiöse Struktur nach der anderen. Damit waren sie sogar noch fleißiger als die russische Polizei. Die Anzahl der Prozesse war enorm. Alleine im Gebiet Gomel’ wurden in 10 Jahren nicht weniger als 150 solcher Strukturen „aufgedeckt“! … Während die ersten organisierten Gruppen „bescheidenerweise“ aus 10-15 Menschen bestanden, saßen 2006 auf der Anklagebank bereits 70 (Prozess gegen „Feuerwehrmänner“) und 130 („Morosower Gruppe“) Menschen auf ein mal! Woher?! Die Strafen exorbitant – von 10 bis 25 Jahren Haft! Völlig analog zur Technologie der Stalinschen Prozesse werden ein paar Menschen als Ausgangspunkt genommen, dann kommen ihre Kontakte hinzu – episodenhafte oder gar zufällige, auf diese Weise bekommt der Prozess seine Fülle und Seriosität und es wird möglich, belastbarere Anklagen zu formulieren. Man kann auch von einander unabhängige oder gar mit einander verfeindete Gruppen zusammenwerfen und eine Organisation „erfinden“. Zufällige Menschen aus dem Kontaktenkreis (target group) können so ins Visier geraten. Praktiziert wird das kontinuierliche Erheben der Anklagen, die angeblich miteinander nichts zu tun haben, um Menschen niederzumachen und Aussagen zu erpressen. Zum Beispiel der MTZ-Prozess (12): Um den Hauptingenieur zu beseitigen, wurden Anklagen gegen zwei weitere unbeteiligte Menschen erhoben, die aufgrund ihrer Berufe potentiell das liefern konnten, was gebraucht war.

 Die Methode funktioniert auch umgekehrt: Eine reale kriminelle Struktur wird bewusst in unzusammenhängende kleine Gruppen und getrennte Episoden zersplittert. So z. B. im Fall der Zollbeamte, an dem die Ermittlergruppe von Bajkowa (13) war. Die Staatsanwältin wurde verhaftet, und der Fall in viele einzelne Fälle zersplittert. Die angeklagten Beamt*innen werden mit Sicherheit mit sehr milden Strafen wegkommen. Und das alles nur, um die Verbindungen zu verdecken, die nach ganz oben führen. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei der Tatsache gelten, dass eine große Anzahl der Ermittler*innen und Fahnder*innen, die sich mit der organisierten Kriminalität beschäftigen, später selbst auf der Anklagebank landet. Noch mehr Ermittler*innen werden gefeuert oder von der Arbeit suspendiert, um kein Aufsehen zu erregen.

 Das zeugt von der intensiven Beteiligung der Repressionsorgane an der Kriminalität. Drogenhandel, Profite aus der Prostitution, Erpressung von Schutzgeldern (!), Waffen, Schmuck – überall sind Bullen und Schlapphüte. Die Diebe wurden auseinander gejagt und die Banditen ausgelöscht, um die Konkurrenz zu beseitigen.

 Die Resultate von 2010-2011 sind folgerichtig: politische Massenprozesse und Aufsehen erregende Prozesse. Ehemalige Präsidentschaftskandidaten, stellvertretende Minister*innen, Generäle – alles gleich, die Repressionsmaschine läuft bereits auf vollen Touren. Das war nicht sofort möglich, sondern wurde jahrelang aufgebaut als in einem Prozess nach dem anderen eine Methode ausprobiert wurde – die Anklage, die auf Bekenntnissen und Zeugenaussagen basiert. Früher oder später mussten wir den aktuellen Zustand erreichen: Rechtlosigkeit und Polizeiwillkür.

 Heute sitzen 47.000 Menschen in Gefängnissen, 1937 waren das 45.000. Zehntausende sind in kolonienähnlichen Siedlungen („im Wald“) und in Besserungsanstalten offenen Vollzugs („Chemie“). Die Bedingungen dort sind öfters schlimmer als in den Arbeitslagern. Es ist Zeit, die Sache beim Namen zu nennen – wir leben unter einem Okkupationsregime, das die Bevölkerung für die eigene Bereicherung und Machtsteigerung bekämpft.

 Auf dem internationalen Parkett hält die Familie zu russischen Regime. Der russische Staat mit dem Geheimdienstler Putin an der Spitze ist nach dem Modell des „petroleum state“, also eines Rohstofflieferanten-Staates aufgebaut. Der Hauptpunkt liegt auf dem Export von Wasserkohlenstoffe, gefördert werden nur die entsprechenden Branchen und ein kleiner Teil der Infrastruktur. Ein paar große Finanzzentren bedienen die Eliten und hochqualifizierte Kader, dort sind hoher Liebesstandart, Zeitvertrieb, Vergnügungen und Handel garantiert. Der Rest Russlands wird vom russischen Regime nicht gebraucht. Die Interessen der Familie bestehen im Teilgewinn vom Transit der Wasserkohlenstoffe in den Westen und in der selbständigen Verarbeitung und dem Weiterverkauf. Die russische Elite ist zutiefst an der Stabilität des strategischen Transits interessiert und akzeptiert deswegen genau solche Machthaber in Belarus, wie sie selber hat – die Herrschaft der Günstlinge.

 Dieser Zustand kann bis zur Erschöpfung des Exportpotenzials andauern. Bis 2023 wird erwartet, dass etwa 80% der weltweiten Ölreserven verbraucht werden. Freilich, sinkt die Rentabilität noch früher. In Europa versteht man das und investiert in alternative Technologien, die auf Nutzung der erneuerbaren Energiequellen basieren. Übrigens, so ein Industrieriese wie Deutschland deckt jetzt schon alleine durch Windenergie 20% des Stromverbrauchs. Die Benzin- und Dieselmotoren werden durch Wasserstoffmotore abgelöst. Diese Entwicklung bedeutet das Ende der Günstlingsherrschaft, sie werden verschwinden zusammen mit dem angehäuften Kapital. Russland wird einen gesellschaftlich-politischen Wandel durchmachen, was zu seiner territorialen Zersplitterung führen wird. Aus diesem Grund such die russische Elite die Nähe der EU.

 Entgegen der weit verbreiteten Meinung steht Belarus nicht an der Grenze zwischen der russischen und der westlichen Einflusszone. Belarus gehört zur russischen Zone, das war während der ganzen neueren Geschichte so. Es gibt einen einfachen Grund dafür: Belarus fällt die Rolle der ersten, ökologisch gesehen der schmutzigsten Rohstoffverarbeitung zu: Ölprodukte, Gas, Kunststoffe, Nahrstoffzusätze, Dolomiterz, kaliumhaltiger Dünger, Papier, Zellulose, Zement usw. Also kann Europa Resolutionen verabschieden und symbolische Manöver in Richtung Demokratie durchführen so viel es will, mit dem faktischen Zustand ist es durchaus zufrieden. „Handel kann man auch mit Kannibalen treiben“ – das ist der Kern der europäischen Politik. Aber Europa versucht Russland zu „zivilisieren“, in die eigenen Prozesse als Partner einzubinden, davon wird auch Belarus betroffen. Zur Begründung will ich folgendes anmerken: Die EU verfügt über mindestens zwei sehr starke Einflussmöglichkeiten auf Belarus. Das sind das Visa-Regime und die Sanktionierung des belarusischen Exports. Wenn Europa uns schon demokratisieren will, warum nutzt es diese Mechanismen nicht – ich will anmerken – diese entscheidenden Mechanismen? Da sind sie, die nationalen Interessen in ihrer ganzen Schönheit!

 Also können wir von niemandem Hilfe erwarten, niemand wird uns retten außer uns selbst. Es ist nötig zu verstehen, dass eine gerechte sozial-politische Einrichtung der Gesellschaft nur auf dem Wege der Selbstbestimmung der Menschen zu erreichen ist. Andernfalls – Sklaverei, Tyrannei, Elend und Degeneration. Die Obrigkeit kann die Bevölkerung unendlich mit ihrem Sortiment von repressiven Mitteln und Technologien terrorisieren. Aber sie hat einen Schwachpunkt: die Menschen. Die Familie und die ganze Korporation sind immerhin auch Menschen, die dieselben Schwächen und Makel haben wie die Normalsterblichen. Das sind Angst, Panik, Verzweiflung, Irrationalismus, Verdrängung. Maschinenpistolen und Panzer sind machtlos, wenn der Wille fehlt, wenn die Angst um die eigene Zukunft Geist und Körper beherrscht. Das Gefühl im Recht zu sein und die Bereitschaft, kompromisslos zu kämpfen, entwaffnen den Gegner, der sich an eigene Macht und Straflosigkeit gewöhnt hat. In der „Amerikanka“ (14) war ich Zeuge einer Situation, an die ich mich mein Leben lang erinnern werde. Ende Dezember 2010, nach dem die Politik der Unterdrückung angefangen hatte, während eines Rundgangs kam ein Aufseher in unsere Zelle. Die maskierten Beamte stellten sich gegenüber der offenen Tür und demonstrierten mit ihren Posen ihren Hass und Abscheu vor uns. In diesem Moment fing Anatolij Lebedko (15) an wie in die Ferne zu schauen, als sähe er durch sie hindurch, als würde er durch die Masken ihre Gesichter betrachten. Der Aufseher verstummte, die Maskierten zuckten zusammen und… gingen zur Seite. Als der Aufseher raus ging, machten sie die Tür zu und niemand konnte seinen Blick heben. Sie waren allmächtig, durften tun, was sie wollten (und machten das auch), hatten aber trotzdem Angst. Je höher die Obrigkeit, desto mehr Gewicht lastet auf ihr. Also ist nicht alles so schlimm, wie es scheint. Regime fallen binnen Stunden, davon zeugt die Geschichte. Der Wille ist materieller als die wirtschaftlichen Missstände. Wie wir sehen, bewaffnen sich die Lybier*innen, obwohl sie Arbeitslosengeld von 750 USD bekommen. Wir sehen, wie Syrier*innen sich täglich den Kugeln stellen, nur um den verhassten Tyrann loszuwerden. Der Wille gewinnt, wenn der Mensch sich nicht von minutiösen Interessen, sondern von hohen Idealen, von Werten der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Würde und der Güte leiten lässt. Alles kann anders werden, es gibt keinen linearen historischen Weg, alles ist veränderbar!

Winter 2011

Fußnoten:

1) Das bezieht sich auf die vorangegangenen Kapitel des Buches.

2) Offensichtlich handelt es sich um Menschen, die ihre Verbrechen bewusst begangen haben, aber nicht wirklich zur kriminellen Subkultur des Landes gehören.

3) Als „Chemie“ wird seit der Sowjetzeit offener Vollzug mit Arbeit in Industriebetrieben bezeichnet.

4) Sowjetische Vorläufer jetziger Repressionsorgane.

5) Sergej Kirow – bedeutender sowjetischer Staats- und Parteifunktionär. Er galt als Gefolgsmann Stalins. Unter bis heute ungeklärten Umständen von einem Attentäter erschossen.

6) Prompartei-Prozess – ein großer Schauprozess 1930, in dem viele bedeutende Ingenieur*innen und Facharbeiter*innen des Hochverrats beschuldigt und verurteilt wurden.

7) Grigori Sinowjew, Lew Kamenew, Georgi Pjatakow, Karl Radek – namhafte sowjetische Politiker, die in den Säuberungen der 1930er Jahre umgekommen sind.

8) Genrich Jagoda, Nikolaj Jezhow – Hauptkommissare des sowjetischen Geheimdienstes.

9) Michail Tuchatschewskij – war einer der ersten fünf Marschälle der Roten Armee in der UdSSR.

10) Juri Sacharenko – Innenminister von Weißrussland, später in der Opposition, verschwand 1999. Viktor Gontschar – belorusischer Politiker, war im Team von Lukaschenko, später in der Opposition, verschwand 1999 in Minsk. Anatolij Krassowskij, Unternehmer, wurde entführt zusammen mit Gontschar.

11) Als „Dieb im Gesetz“ wird eine angesehene Person innerhalb der kriminellen Subkultur bezeichnet. Der „Landesaufseher“ steht an der Spitze der kriminellen Landeshierarchie (aus Gebiets und Stadtaufsehern bestehend), wachen über die Einhaltung des „Ehrenkodexes“, schlichten in Streitfragen, verwalten eine Art „Hilfefonds“ usw. Sind normalerweise der Polizei bekannt und von ihr respektiert.

12) MTZ – Minsker Traktorenwerke.

13) Swetlana Bajkowa – ehem. Ermittlerin für besonders wichtige Angelegenheiten bei der belarusischen Staatsanwaltschaft, ermittelte gegen Zollbeamte. Bekam 2 Jahre Hausarrest.

14) Als „Amerikanka“ wird die U-Haft des KGB in Minks bezeichnet. Wegen brutaler Haftbedingungen inzwieschen auch als „belarusisches Guantanamo“ genannt.

15) Anatolij Lebedko – belorusischer Politiker, Vorsitzender der Vereinigten Bürgerpartei Weißrusslands. Angeklagt 2010 wegen Anstiftung zu Massenunruhen, seitdem in Haft.

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