Skip to content


Neue Züricher Zeitung: “Russische Extremisten im Vormarsch – Komplizentum der Polizei “

NNZ, 14.12.2010

eg. · Die jüngsten Ausschreitungen extremistischer Kräfte werfen ein Schlaglicht auf die
wachsende rechtsradikale Szene in Russland. Der Staat trägt eine
erhebliche Mitschuld an der Gewalt gegen Personen aus dem Nordkaukasus
und Zentralasien. Die Regierung hat mit ihrer Politik die Feindbilder
geschaffen, die von den Extremisten ausgebeutet werden. Ferner ist die
Polizei auf dem rechten Auge blind. Sie schikaniert Ausländer und geht
nicht gegen nationalistische Schläger vor.

Die Saat des Nationalismus

Extremismus und ethnische Spannungen als Versagen des russischen Staats

Die pogromartigen Ausschreitungen in Moskau
haben Russland an einem wunden Punkt getroffen. Nationale Spannungen
wurden zu lange unterschätzt. Hass und Gewalt haben auf allen Seiten
zugenommen. Das Vertrauen in den Staat ist gering.

Markus Ackeret, Moskau

Die Bilder werden so rasch nicht
aus den Köpfen gehen: Wie schwarz gekleidete junge Männer die Arme
recken, «Russland den Russen, Moskau den Moskauern» skandieren und die
Kremlmauern hinter ihnen im Rauch verschwinden; wie sie U-Bahn-Waggons
stürmen und gezielt kaukasisch oder asiatisch aussehende Personen halb
totprügeln; wie der Polizeichef mit maskierten Demonstranten Gespräche
führt und höflich zur Ordnung aufruft. In den Ereignissen vom Samstag
mitten in Moskau spiegelt sich nicht einfach die Empörung von
Fussballfans über einen unaufgeklärten Mord, sondern aufgestauter Hass,
ein Nationalismus, den die Staatsmacht zu lange unterschätzt und für
eigene Zwecke missbraucht hat.

Freunde und Feinde

Am Samstag identifizierte
Innenminister Raschid Nurgalijew linksradikale Elemente als Urheber der
Eskalation auf dem Manegeplatz. Angesichts der eindeutigen Parolen und
Aufmachung der Manifestanten wirkte die politische Zuordnung geradezu
grotesk, verweist aber auf einen Reflex der Staatsmacht. Wenn
linksradikale Aktivisten mit liberalen, nicht systemkonformen
Oppositionellen zu unbewilligten Demonstrationen aufmarschieren, handeln
die Sicherheitskräfte rasch und entschlossen; ein Dialog mit dem
Polizeichef scheint ausgeschlossen. Jahrelang war die an den Rand
gedrängte Totalopposition zum Kreml zur Gefahr für den Staat erklärt
worden. Gewaltakte hatte diese nicht im Sinn. Auf sie wurden vielmehr
Aktivisten verschiedener kremltreuer Jugendorganisationen gehetzt.

Diese unterscheiden streng
zwischen Freunden und Feinden des Staates und schufen jenes Klima der
Aggressivität, das Übergriffe auf Journalisten und
Bürgerrechtsaktivisten erlaubt. Das Schema «Wir und die andern»
vertiefte auch die Bruchstellen in der Vielvölker-Gesellschaft. Dass
ausgerechnet der neu eingeführte «Tag der Einheit des Volkes» am 4.
November zum jährlichen Aufmarsch der Ultranationalisten führt, ist kein
Zufall. Das Datum soll an die Vertreibung der polnischen Besetzer im
17.  Jahrhundert erinnern – an den Schulterschluss «der Russen» gegen
das «Böse von aussen».

Das «innere Ausland»

Den gewaltbereiten Rechtsradikalen
geht es heute in erster Linie um das «Böse von innen». Ihre Feindschaft
gilt Zugereisten aus dem Kaukasus. Viele derer, die gemeint sind, sind
keine Ausländer, sondern Nordkaukasier. Das Unbehagen ihnen gegenüber
geht weit über die nationalistisch gesinnten Kreise hinaus. In Moskau
und anderen Städten ausserhalb Südrusslands mag ihre Zahl zugenommen
haben, ebenso jene der Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken
Zentralasiens. Eine Integrationspolitik hat es nie gegeben.

Daran, dass der Nordkaukasus zu
einem «inneren Ausland» geworden ist, trägt die Politik der vergangenen
zwanzig Jahre eine grosse Mitschuld. Die Kriege in Tschetschenien haben
auf beiden Seiten der Linien Gewalt gesät und Feindbilder geschaffen. In
vielen Bereichen gelten im Nordkaukasus andere Gesetze. Die
Konfrontation unterschiedlicher Vorstellungen, gepaart mit
Gewaltbereitschaft und Käuflichkeit, beschränkt sich aber nicht nur auf
die nordkaukasischen Republiken und Moskauer Abgesandte dort. Das
fehlende Vertrauen in den Staat und seine Exponenten ist evident. Im
Nordkaukasus fördert es Selbstjustiz und den extremistischen Untergrund.
In Moskau, aber auch anderen mehrheitlich von ethnischen Russen
bewohnten Städten entzündet sich daran der Hass auf andere. Im Fall des
Fussballfans, der vor Wochenfrist im Streit mit Kaukasiern umgebracht
wurde, heisst es, die Polizei habe sich von herbeigeeilten Verwandten
der Beteiligten einschüchtern lassen und diese gegen Geld freigelassen.
So entsteht das Bild eines Staates, der seine Bürger nicht schützt und
dessen korrupte Sicherheitsorgane mit Mordgehilfen zusammenspannen.

Vorwürfe gegen die Polizei

Die Sicherheitskräfte erscheinen
damit auf beiden Seiten des Konflikts involviert: Sie trifft der
Vorwurf, aus Sympathie für die Nationalisten Ausländer bei Kontrollen zu
schikanieren und sich bei Gewaltausbrüchen wie am Samstag zurückhalten.
Zugleich sollen sie Kaukasiern gegen Geld Straffreiheit ermöglicht
haben. Der Staat hat darauf keine Antwort. Er hat sich immer wieder um
nationalistische Wähler bemüht. Die Verurteilung der Ereignisse durch
Präsident Medwedew reicht nicht. Die Probleme gehen tiefer, als dass es
mit Forderungen nach scharfer Bestrafung und rigorosem Einsatz der
Sicherheitskräfte getan wäre.

Posted in deutschsprachig, ex-soviet region, General.

Tagged with , , , , , , , .