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Update: Zur Zeit kommte es erneut zu brutalen Raeumungen von Stadtteilen in Rio de Janeiro, um den Weg fuer die WM zu ebnen:
http://folhacentrosul.com.br/geral/3090/fifa-manda-e-prefeito-determina-desocupacao-violenta-no-rio-de-janeiro
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Der Kampf gegen die Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr Brasiliens ist als einer der historischen Kämpfe der Arbeiterklasse des Landes schon über hundert Jahre alt. Die aktuellen Aufstände haben ihren Ursprung in den Protesten von 2004 – seitdem sind sie stetig an Mobilisierung und Radikaität gewachsen. Jetzt gerade kommt noch die 2014 stattfindende Fussballweltmeisterschaft der Männer und die 2016 stattfindenden Olympischen Spiele hinzu, die eine tiefgehende soziale Katastrophe ausgelöst haben.
Zur Veranschaulichung präsentieren wir einige Daten:
– Die Gesamtkosten für die Fussballweltmeisterschaft werden mit 33.000 Millionen US-Dollar beziffert.
– Es wurden und werden 170.000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen geräumt, um dem Bau von Stadien Platz zu machen (Wovon einige nach der WM nicht mehr genutzt werden). Gleichzeitig steigen die Mieten in den angrenzenden Stadtvierteln.
– 1.800 Millionen US-Dollar beträgt der Kostenvoranschlag für Sicherheitsmassnahmen, davon sind allein 50 Millionen US-Dollar für Tränengas vorgesehen.
– Während der WM wird eine 2 Quadratkilometer grosse Fläche von der FIFA kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass nur Produkte der offiziellen Partner verkauft werden. Hierfür wurden bereits an die 1000 mobile Verkäufer verdrängt, eine Zahl, die wahrscheinlich die 100.000 erreichen wird.
– Der Handel mit Kindern für Sextourismus vom Landesinneren in Richtung der Metropolen des Nordostens ist bereits gestiegen, so wie auch die Anzahl der Brustimplantate und der Englischkurse bei Sexarbeiter*innen.
Die Ausgaben und Konsequenzen dieses sportlichen Spekatakels und die Preiserhebung des öffentlichen Nahverkehrs um 20 Cent katapultierte die Rebellion, die sich schnell in über 90 Städte des Landes ausbreitete. Hier vereinten sich alle: Von NGO’ s mit ihren bürgerlichen Belangen bis hin zu Radikalen, die alle erkannt haben, wer der Feind ist und nicht zögern, ihn anzugreifen.
Am 28. Mai 2013 gab es in Goiania die erste Demonstration mit starken Konfrontationen. Es wurden mehrere Busse des öffentlichen Nahverkehrs attackiert und angezündet, woraufhin der Aufstand gewaltsam unterdrückt wurde.
Am ersten Juni trat in Sao Paolo der neü Fahrpreis in Kraft ( von 3 Reais auf 3,20 Reais). Am sechsten Juni wurden Proteste gegen die Fahrpreise unterdrückt, was den Weg zur Revolte weiter ebnete. Ab diesem Moment begannen die Demos und Märsche sich zu vervielfältigen, im ganzen Land und beinah täglich. Am 17 Juni wurde während einer Ansammlung vor dem Justizgebäude in Rio de Janeiro die Polizei angegriffen, die das Gebäude beschützte. Die Pazifisten riefen “Ohne Gewalt!”, um der Polizei die Zweifel zu nehmen, welches die Demonstranten waren, die angriffen. Daraufhin stiessen die Revoltierenden weiter vor und warfen die Absperrungen um, woraufhin sich die Polizei im Gebäude versteckte, was die Gemüter nur weiter anheizt und noch mehr Menschen gegen die Tür stürmen liess. Es wurden Molotovcocktails geworfen und mit Füssen und Teilen den Absperrungen versucht, die Tür klein zu kriegen. In der Nähe schafft es eine andere Gruppe Demonstranten nicht nur die Polizei zurückweichen zu Lassen, sondern auch sie einzukesseln und zum Rückzug zu zwingen.
Gleichzeitig tagte in Brasilia der Nationale Kongress, der neue Formen der Stadtentwicklung vorstellte, welche unter anderem auch Proteste und ihre Unterdrückung beinhaltet. Am 20.Juni gehen in ganz Brasilien über eine Million Menschen auf die Strasse. Während Uruguay und Nigeria in Salvador de Bahia um den Konföderationscup spielen gibt es gewaltvolle Unruhen in einer 10.000 Menschen starken Demonstration. Am gleichen Tag nehmen 14 brasilianische Städte die Preiserhöhung wieder zurück. Am 22.Juni gibt es erneut gewaltvolle Ausschreitungen, diesmal in Belo Horizonte, wo Vertragshändler attackiert werden und die Polizei wieder einmal vor den Angriffen des Proletariats zurückweichen muss. Es gibt Plünderungen und am Stadtrand wird ein Bus des öffentlichen Nahverkehrs verbrannt. In den Medien kursiert das Gerücht, dass die WM abgeblasen und stattdessen in Mexico veranstaltet werden könnte. Am 26.Juni werfen Bewohner*innen der “Favelas da Maere” in Rio de Janeiro die BOPE (Spezialoperations-Batallon der Militärpolizei, Elite-Gruppe der brasilianischen Polizei) aus ihrem Viertel. Am 30 juni werden sechs Personen Opfer der darauffolgenden Repressionen. Die Gewerkschaften reagieren mit einem Aufruf zum Generalstreik am 11 juli, um von den Protesten zu profitieren. In ganz Brasilien finden zu dieser Zeit Versammlungen in der Nachbarschaft oder in Universitäten statt, weiterhin gibt es selbst in Dörfern und Kleinstädten Demos und Zusammenstösse mit der Polizei.
Das Hirn der Politiker kocht über beim Versuch die Proteste und Ausschreitungen zu kategorisieren. Ihr Problem dabei ist, dass viele der Auständischen nicht ihre “politsche “ Sprache sprechen, die die Spezialisten so gerne übersetzen und interpetieren. Viele der Aufständischen erinnern uns an etwas, was wir vergessen zu haben scheinen; Das Leben zu feiern im angesicht einer Welt, die sich in ein Ding oder eine Summe von Dingen verwandelt hat. Die Aufständischen tanzen am Feuer wahrend sie sich vergeschwistern in dieser isolierten Welt, wahrend sie sich gegen den Geist des Geldes stellen, wahrend die Polizei flieht.
Der ökonomische Geist liest nur die in der Nähe der patriotischen Flaggen hängenden Plakate, oder die derer, die unschuldig meinen, dass “die Flagge uns Alle” repreasentiere. Diese Plakate, die das gleiche wie immer fordern, nur besser. Was darauf hinausläuft, dass es das Selbe bleibt. Doch es gibt viele andere, die keine Nationalflagge dabei haben, sondern sie eher verbrennen und sie haben auch keine Plakate mit Sprüchen dabei. Sie verharren aber auch nicht in Stille, ihre Aktionen sprechen für sich.
Es geht nicht um ein paar Cent mehr für den Nahverkehr, es geht darum, dass man uberhaupt dafür zahlen muss, transportiert zu werden. Transportiert zu werden um zu arbeiten, zu arbeiten um den Transport zu bezahlen. Die Erhöhung bringt das Fass zum überlaufen! Warum auch nicht sollten die proteste mit diesem kleinen Detail beginnen? Wenn sich in jedem Detail unser alltägliches Leben wiedergespiegelt wird, dass vom Geld beherrscht wird. Wer versteht nicht, dass man damit beginnt, gegen ein teures ticket zu protestieren und dabei endet, einen geldautomaten kaputt zu schlagen? Sicherlich nur die Besitzer/Eigentümer, oder die die auch nichts besitzen, aber gelernt haben, wie Besitzende zu denken.
Der Geist der Polizei verzweifelt. “Die Proteste haben weder Anführer noch Befehlsketten. Die Mobilisierung hat nur selten eine erkennbare Struktur und klar definierbare Ausführende” heulen sie auf und die Presse beklagt sich wie auch alle anderen Wachhunde der Ordnung.
“Es gibt niemandem, mit dem man Verhandlungen führen kann und niemanden zum einsperren. Die informelle, spontante, kollektive und chaotische Natur der Proteste verwirrt die Regierungen. Mit wem verhandeln? Wem muss man Zugeständnisse machen, um die Bewegung auf den Strassen zu beruhigen? Wie soll man wissen ob die, die wie Anführer wirken tatsächlich die Bewegung repräsentieren?” schreibt ein Redakteur von El Pais, ebenfalls vom Hirn des Staates diktiert. Der politische Geist geifert natürlich danach, sich in Gedanken eine bewaffnete Front vorzustellen, eine Organisation, die ideologische Weste denen überzustreifen, die eigentlich Menschen voller Leben sind, die sich kilometerweit gegenseitig mit ihren rebellischen Aktionen grüssen. Er fantasiert und sucht, irgendwen als weniger exzessiv oder verständlicher und nachvollziehbar auszumachen, um zu einem Dialog in der Sprache des Staates zu kommen, in der Sprache der Politik. Auf Augenhöhe mit dem Staat zu reden ist unmöglich, man kann in seiner eigenen Sprache sprechen, aber um mit dem Staat zu sprechen muss man seine Logik teilen, in der sich Bedürfnisse in Rechte und Pflichten verwandeln, Entscheidungen werden zu Konsensen und Abstimmungen und wo wir unsere menschlichen Fähigkeiten zurückweisen müssen, um sie an die demokratischen Institutionen zu übergeben.
Der zivilisierte Geist will den Ekel gegen die Exzesse der Chefs und gegen ein Leben als Ware in blosse Unzufriedenheit der Bürger formen. Er will den Ekel gegen die Regierung zu einer neuen Partei machen, die bei den nächsten Wahlen antritt, will die Solidariteat in eine NGO, und die Gewalt der Strasse in eine “Armee des Volkes” verwandeln.
Der Geist der neuen Politik will, das Alles an seinem Platz bleibt, die Unterdrückten sollen wie Dinge an ihrem Platz bleiben, damit sie weiter um Details kämpfen, ohne an die Wurzel des Problemes zu kommen. Die wohlbedachten Experten der Demokratie spezialisieren sich darin, Dinge aus der Tür zu schmeissen, die sie kurz darauf durchs Fenster wieder hereinholen. In einer unendlichen Logik in der die Probleme der Vergangenheit die Lösungen der Gegenwart sind, oder andersrum.
Der konformistische Geist bleibt zu Hause und pöbelt. Er beschwert sich wenn das Gewaltmonopol des Staates in Frage gestellt wird und leidet beim Anblick der beschädigten Symbole des Kapitalismus. Er würde den Ungehorsamen seinen Unmut auch zeigen aber dafür ist er dann doch zu feige und reagiert sich ab und sagt “die Regierung beklaut uns, aber sie macht wenigstens was” , “Armut gab es schon immer” und “das war schon immer so”.
Der kompetitive (Konkurrenz-) Geist, der sein Vergnügen im Sport und in den Geschäften findet kommt aus seinem Staunen nicht heraus. Die Ungehorsamen bezweifeln die Vorteile des Sportes und der Geschäfte indem sie gegen die WM protestieren. Sie bringen die WM in Gefahr!
Diese WM, gute Freundin der zivil-militärischen Diktaturen, die weltweit ganze Viertel räumen lässt um stattzufinden, die Regierungen die Möglichkeit öffnet Kontrolle und Repression auszuweiten, die den bescheuerten Nationalismus verschlimmert und uns nahelegt Millionäre zu vergöttern und zu versuchen so zu sein wie sie.
Wahrenddessen sind da Körper die tanzen und tanzen. Schwarze und weisse Körper, jeder Sexualität, allen Alters, von hier und von da. Sie bieten der Polizei die Stirn, weil diese Teil des Staates sind, welchen sie immer schon sehen. Sie greifen die Symbole des Kapitalismus und des Handles an, weil dies das Antlitz des Kapitals ist, welches sie am besten erinnern.
Es ist wahrscheinlich, dass wenn sie ihre Aktionen und Forderungen nicht in Worte fassen, sich die Nationalisten dazwischenmischen, sowie die Opposition wie auch Opportunisten jeder Art. Aber es besteht auch die Gefahr, dass wenn sie beginnen zu sprechen, sie am Ende die Sprache des Staates und des Kapitals sprechen und damit schrittweise Reformen fordern.
Wahrenddessen erkennen sich die Körper untereinander, durch die Aktion gewordene Kritik an dieser Gesellschaft. Und während sie schlagen werden sie sich ihrer eigenen Kraft bewusst, ihrer Möglichkeiten, die mehr sind als nur die Summer ihrer Individuen.
Und sie führen uns vor Augen, dass es möglich ist, den Leichenzug des Kapitals abzuhalten, diese kapitalistische Normalität zu unterbrechend, die die Mächtigen uns immer wie eine naturgegebene Eigenschaft dieses Planeten preasentieren.
Es ist in diesen Unruhen und Demonstrationen, in denen der öffentliche Raum, in dem wir leben durcheinander gerät. Die Leute gehen nicht mehr am Strassenrand mit einsamen und unsicherem Blick, sondern stattdessen gemeinsam, lachend, singend, einander erkennend, die Polizei, die sie genau davon abringen wollen, angreifend und sich vor ihr verteidigend. Es sind nicht mehr die Autos, die Leute umfahren, sondern die Menschen die über die Autos hinwegsteigen. Die Fensterscheiben die uns von dem trennen was wir produzieren und was wir gezwungen sind zu kaufen, zerspringen jetzt beim ersten Schlag. Die Werbetafel, die uns bombardiert und zerstört wird nun zu einem Hindernis, um die Polizei zu blockieren und wird mit Graffiti überzogen, um dem kreativen Geist und den Forderungen Platz zu geben. Die Monumente der mörderischen Herrschaften, die uns Tag und Nacht mit ihrem steinernden Blick überwachen werden angemalt, bespuckt, verdeckt und begraben. Die Plätze, die letzten grünen Orte die wir gewöhnt sind zu sehen, dienen nicht mehr nur zum Entspannen in der Dichotomie Arbeit/Freizeit, sondern sind nun Orte des Zusammentreffens, um zu entscheiden welche Aktionen uns weiterbringen und um einernader kennenzulernen. Jeder Bruch mit der Normalität stellt eine Herausforderung dar, jede Darstellung von Personen, die angewiedert sind von dieser Art diese Welt zu erleben, kann immer nur begrenzt und subjektiv sein. Trotzdem, sind es diese Momente, wo die Grenzen gebrochen werden können und man sich den Gefahren entgegen stellt, die das einfache Weiterleben darstellt.
Aus: La oveja negra, boletín bimestral de la biblioteca y archivo histórico social “Alberto Ghiraldo” – año 2/Nro.9/Junio-Julio 2013 Originaltitel: Brasil ¿Disturbios sin sentido?
“La oveja negra” wird herausgegeben von Aktiven der Bibliothek Alberto Ghiraldo in Rosario, Argentinien
Kontakt: www.bibliotecaalbertoghiraldo.blogsport.com ghirald@hotmail.com
Blog der Zeitschrift mit Originalversion zum runterladen: http://boletinlaovejanegra.blogspot.com.ar