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Aufruf zu einer antifaschistischen Demonstration am 19. Januar 2011 in Moskau

Quelle: http://19jan.ru/deutsch/aufruf-zu-einer-antifaschistischen-demonstration-am-19-januar-2011-in-moskau

Am 19. Januar 2011 jährt sich zum zweiten Mal der Mord an zwei Antifaschist_innen: dem Anwalt Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa. Beide wurden in Moskau unweit des Kremls am hellichten Tag mit Kopfschüssen ermordet.

Der Mord war dreist und demonstrativ. Und obwohl von Beginn an unterschiedliche Versionen für die Tat genannt wurden (Markelow war als Anwalt in Tschetschenien tätig, und zwar sowohl in Verfahren gegen russische Einheiten, die Folter und Morde an der tschetschenischen Zivilbevölkerung zu verantworten haben, als auch gegen die tschetschenische Führung, gegen die der Verdacht auf Mord und Entführung von Menschen gehegt wird. Außerdem war er der Anwalt des halbtot geprügelten Journalisten Michail Beketow, gegen den der Bürgermeister der Stadt Chimki Streltschenko, ein Gerichtsverfahren geführt hatte), vertraten die antifaschistischen Mitstreiter_innen von Stas und Nastja die Ansicht, dass der Mord nicht ohne Beihilfe von Neonazis verübt wurde. Denn Stanislaw Markelow war der Initiator mit Sorgfalt geführter Ermittlungen im Fall des im Frühjahr 2006 ermordeten jungen Antifaschisten Alexander Rjuchin. Auf seine Bemühungen ist zurückzuführen, dass der Mordfall nicht vertuscht oder die Ermittlungen auf die lange Bank geschoben wurden. Nicht nur die Ermittler stießen letztlich auf die Spur der Verdächtigen aufgrund der Hartnäckigkeit des Anwalts, auch das Gerichtsverfahren wurde nur deshalb zu Ende geführt, die Hälfte der Täter aufgespürt, verhaftet und verurteilt und die restlichen zur Fahndung ausgeschrieben.

Heute – daran hegen wir praktisch keine Zweifel mehr – befindet sich in den Händen der Rechtsschutzorgane der wahre Mörder von Stas und Nastja, und ebenfalls dessen Komplicin. Bald beginnt der Prozess gegen sie. Diese Leute sind Neonazis, einer davon ist genau jener, der als Beteiligter an dem tödlichen Übergriff auf Alexander Rjuchin zur Fahndung ausgeschrieben war und derer die Polizei nicht habhaft wurde.

Die Mörder_innen sind gefunden, bald beginnt der Prozess… Kann sich die Öffentlichkeit demnach beruhigt zurücklehnen?

Nein.

Jedes Jahr werden in unserem Land Dutzende weniger spektakuläre Morde mit rassistischem Motiv verübt. Die Opfer sind russische Staatsbürger, deren Äusseres auf eine nichtslawische Herkunft schließen lässt, und Zugereiste aus Ländern, die vormals zur Sowjetunion gehörten oder mit ihr eng verbunden waren. Internationale Solidarität aus Sowjetzeiten, vermeintliche oder tatsächliche, wurde abgelöst von nationaler Intoleranz und dem Hass auf Andersaussehende, auf Menschen, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Augenform, eine andere Haarfarbe und eine andere Hautfarbe vorweisen.

In der Regel merken wir uns die Namen jener Opfer des Naziterrors nicht, oft wissen wir sie auch einfach nicht: Die Presse teilt uns nur spärliche Informationen darüber mit, dass ein usbekischer oder kirgisischer Staatsbürger, ein Aserbaidschaner, Armenier, ein aus Vietnam Zugereister oder ein Flüchtling aus Afghanistan getötet wurde… Wir sehen ihre Gesichter nicht, auch nicht die ihrer trauernden Verwandten, als ob sie sich namenlos ins Nichts entfernen, da sie sich in unserem Bewusstsein nur während jener Sekunden bemerkbar machen, während wir die schreckliche Nachricht auf unseren Computermonitoren oder in der Zeitung lesen.

Aber nein, niemand der von Neonazis Ermordeten ist ohne Namen. Niemand ist im Reagenzglas auf die Welt gekommen, ohne Schmerz, Vernunft, Liebe, Zuneigung und Hoffnung, alle wurden von Müttern geboren, jeder und jede hatte Angehörige, Freund_innen, Menschen, um die sie sich gekümmert haben, Menschen, die sich um sie gekümmert haben…

Auf dieses Problem, um das sich die Öffentlichkeit in unserem Land lange nicht geschert und das die Regierung geflissentlich ignoriert hat, machten nur die Diasporas aufmerksam, denen die Ermordeten angehörten, und junge Antifaschist_innen, mit denen Stanislaw Markelow befreundet war und welche er als Anwalt vertrat, und deren Kreis auch die Journalistin Anastasija Baburowa angehörte, die selbst nach Moskau von der Krim zugereist war, aus der mit militärischem Ruhm bedeckten Stadt Sewastopol.

Vor einem Jahr, am Vorabend des ersten Jahrestages des Mordes an Stas und Nastja, haben sich Menschen, die persönlich mit den Beiden bekannt waren und in unterschiedlichen Bereichen gesellschaftspolitisch aktiv sind, im „Komitee 19. Januar“ zusammengeschlossen, um den ersten Todestag der beiden Antifaschist_innen gebührend zu begehen und um ihr entschlossenes „Nein!“ gegen den Naziterror zum Ausdruck zu bringen. Trotz eisiger Temperaturen und dem Entgegentreten der Miliz nahmen am 19. Januar 2010 etwa 1500 Menschen an der antifaschistischen Demonstration und der folgenden Kundgebung im Zentrum von Moskau teil. Unter den Demonstrant_innen befanden sich jene, die ihren Protest gegen die Regierung häufig offen kundtun, und jene, die sich seit der Perestroika an keiner Straßenaktion mehr beteiligt hatten. Zum Treffpunkt kamen auch jene, die nie zu einer Kundgebung oder Demonstration gegangen waren, denn das bislang verdrängte Problem begann in das gesellschaftliche Bewusstsein vorzudringen, versetzte all diejenigen in Aufregung, denen die alltägliche Gewalt nicht gleichgültig war, unabhängig vom Alter, der sozialen Herkunft, Beruf und Geschlecht. Zur Demonstration kamen Student_innen und Rentner_innen, wohlhabende und selbstsichere Leute mittleren Alters und Ärmere ohne Hoffnung auf eine Besserung ihrer sozialen Lage, Gebildete und junge Arbeiter_innen, also alle möglichen Leute. Sie verband ihr angeschlagenes Gewissen, die Intoleranz gegenüber Nazimorden und die Scham für ein Land, für eine Stadt, in der mittelalterliche Greueltaten fast zur Norm gehören.

Wie sich nun ein Jahr später gezeigt hat, kam jener Protest zur rechten Zeit. Womöglich erfolgte er sogar zu spät. Jedenfalls zeigten die Ereignisse vom 11. bis 15. Dezember in Moskau und anderen Städten, dass der Nazismus sein Haupt keinesfalls gesenkt hat, dass ultrarechte Ideen Eingang in das Denken vieler Jugendlicher gefunden haben und diese während der Jelzinschen und Putinschen Ära mit geringer Bildung und schlechter Erziehung ausgestattete Massen bereit sind zu Gewalttaten zu schreiten. Es ertönte das halbvergessene und überaus antiquierte Wort „Pogrom“, es fehlte nicht mehr viel und die Menge auf dem Manezhnaja-Platz wäre zu einem echten Pogrom übergegangen, die Menge am Kiewer Bahnhof vier Tage später zeigte Bereitschaft sich zu prügeln, mit Messern auf andere einzustechen und zu schießen.

In jenen Tagen ertönte ausserdem die Frage, wo denn die Antifaschist_innen abgeblieben sind? Warum haben sie nicht ein lebendiges Schutzschild gegen die aufgebrachten Nazis gebildet? Antworten auf diese Frage gibt es mehrere und die wohl bedeutsamste von ihnen lautet: Versucht doch selbst Euch in den Weg zu stellen und versucht überhaupt euch zu organisieren um einer aggressiven Menge gegenüber Widerstand zu leisten, nämlich mordenden und schlagenden Nazis, unter der Bedingung, dass euch gegenüber eine regelrechte Hetzjagd eröffnet wurde. Denn unter solchen Bedingungen existierte die antifaschistische Jugendbewegung in der zweiten Jahreshälfte 2010. Hausdurchsuchungen, massenhaft angelegte Razzien auf Konzerten, Festnahmen, Verhöre unter Prügel – all dass bestimmte die Realität der Antifa und nicht die Bildungsarbeit in jugendlichen Kreisen, nicht die Durchführung kultureller Veranstaltungen, nicht die Herausgabe von Literatur und nicht einmal Turniere für Kampfsport und Fussball, welche junge Antifaschist_innen noch im Jahr 2009 regelmäßig organisierten.

Der Staat stürzte sich mit seiner ganzen Polizeimaschinerie auf die junge antifaschistische Bewegung, als er dessen aufkeimende Kraft zu spüren bekam. Zu diesem Zeitpunkt führten die Nazis legale „Russische Märsche“ durch, posierten vor Journalisten in teuren Hotels und mordeten weiter jene, die am wenigsten geschützt sind: Hausmeister, einfache Arbeiter, Jugendliche… Während der Staatsrazzia gegen die Antifa versuchten die Nazis sich als „vorzeigbar“ in Szene zu setzen und dem Staat und der Geschäftswelt vorzuführen, dass sie als „Ordnungsfaktor“ unter schwierigen ökonomischen und politischen Verhältnissen nützlich sein können, dass sie sowohl zu schmutziger Arbeit fähig sind als auch zum Defilieren in gebügelten Hemden mit Krawatte.

Dieses Defilieren ergoss sich in den Ereignissen auf dem Manezhnaja-Platz und nach dem Fehlen realer Massnahmen zur Stellung und Bestrafung der Verantwortlichen zu urteilen, sprachen diese Vorfälle wohl einem der hochrangigen Kremlbosse aus der Seele.

Vor diesem Hintergrund weist das „Komitee 19. Januar“ auf die Notwendigkeit gemeinsamer und solidarischer Aktionen all jener hin, die sich gegen ein Abgleiten Russlands in den nationalistischen Abgrund aussprechen. Wir leben in einem großen Land, wir sind alle sehr verschieden, wir tragen eine Menge Widersprüche, Streitigkeiten und Unvereinbares mit uns herum – schließlich müssen wir uns nicht alle gern haben. Aber in einem sind wir uns einig: der Nazismus, der unserem Land und anderen Ländern Europas, Asiens und Amerika im 20. Jahrhundert unzählige Leiden zugefügt hat, erzeugt erneut Blutspuren. Es ist zu spät zu sagen, dass er nicht erneut aufkeimen darf, wo er bereits wieder aufkeimt und in Teilen bereits existiert, es muss darüber gesprochen werden, wie diese Entwicklung zu stoppen ist.

Wir rufen alle ehrlichen Leute, für die das Freiheitsideal, Gerechtigkeit und einfach ein normales Leben in unserem Land für Menschen unterschiedlicher Nationalitäten, Glauben, Überzeugungen und Lebensprinzipien grundlegende Werte darstellen, dazu auf, sich den antifaschistischen Demonstrationen am 19. Januar in Moskau und anderen Städten anzuschließen. Es geht nicht einfach um eine Gedenkveranstaltung, nicht einfach um das Gedenken an die Ermordeten, Stas Markelow, Nastja Baburowa und viele viele andere. Der 19. Januar soll ein Tag der Entschlossenheit, ein Tag des Protestes, ein Kampftag werden gegen die faschistische Bedrohung in Russland.

Die Demonstration in Moskau startet am 19. Januar 2011 um 19 Uhr neben dem Timirjazew-Denkmal (Nikitskije vorota), wo der Twerskij Boulevard beginnt. Wir geben auf der Webseite des „Komitee 19. Januar“ http://19jan.ru in den kommenden Tagen Einzelheiten über die geplante Demonstrationsroute und unsere Slogans durch.

Den Naziterror stoppen! Wenden wir die ultrarechte Bedrohung von Russland ab!

Vereint sind wir unbesiegbar!

Komitee 19. Januar

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  1. Tweets that mention Aufruf zu einer antifaschistischen Demonstration am 19. Januar 2011 in Moskau – a3yo -- Topsy.com linked to this post on January 15, 2011

    […] This post was mentioned on Twitter by noblogs. noblogs said: [a3yo] Aufruf zu einer antifaschistischen Demonstration am 19. Januar 2011 in Moskau http://nbl.gs/2Wj […]