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Griechenland vor entscheidenden Tagen

Da die nächsten Tage in Griechenland und
speziell in Athen sehr heiß werden, soll der folgende Text Ereignisse
und Entwicklungen der letzten Wochen / Monate zusammenzufassen und in
einen gewissen Kontext stellen, um individuelle Schlussfolgerungen zu
ermöglichen. Er soll weiterhin dabei behilflich sein,
innergesellschaftliche Konflikte in Griechenland in einen Zusammenhang
zu stellen und Anhaltspunkte für den Frust und die Wut vieler
Schüler_innen, Student_innen, Arbeiter_innen, Migrant_innen etc.
aufzuzeigen. Nicht weniger soll er auch als Aufruf dienen, sich in den
folgenden Wochen solidarisch mit den Erhebungen in Griechenland (wie
letztes Jahr) zu verhalten.
 
Griechenland unter “sozialistischer” Regierung

Nachdem
die sozialdemokratische/sozialistische PASOK Ende September die Wahlen
in Griechenland gewann und mit einem deutlichen Vorsprung die
konservative Partei Nea Dimokratia bezwang, hatten nur wenige die
Hoffnung auf eine Besserung der Lage.
Es zeigte sich schnell, dass
die selben repressiven Mechanismen gegen opponierende Gruppierungen und
Aktist_innen griffen wie schon unter der konservativen Regierung.
Schnell wurden Wahlversprechen wie die Entprivatisierung eines Teils
des Hafens Piräus’ wieder aufgehoben und die neoliberale Marktpolitik
fortgesetzt.
Die Unzufriedenheit zeigte sich schnell.
Hafenarbeiter_innen traten in einen mehrwöchigen Streik. Es kam zu
Konflikten mit der Staatsmacht. Er war des Weiteren auch Ausdruck,
gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu rebellieren, die
Griechenland besonders hart trifft. Die Angst vor der Erwerbslosigkeit
ist groß – zumal soziale Leistungen wie Krankenversicherung wegfallen
würden und das Arbeitslosengeld kaum zum Überleben reicht.
Die
Solidarität zu den Streikenden war deutlich zu spüren und präsentierte
sich in milieuübergreifenden Kundgebungen und Demonstrationen, die die
Streikenden unterstützten. Das Proletariat als revolutionäres Subjekt
ist in der Theorie vieler (anarchistischer) Gruppierungen sehr zentral
und zeigt(e) sich auch oft in direkten Aktionen.

Die “Besatzung” von Exarchia

Am
Nachmittag des 7. Oktobers gab es einen Angriff im Zentrum Athens von
einer größeren Gruppe von Anarchist_innen auf bedeutende Banken und
Konzerne, um die Solidarität mit anarchistischen Gefangenen in
Griechenland auszudrücken. Hintergrund war die Verhaftung von 3
“mutmaßlichen” Mitgliedern der anarchistisch – militanten Gruppierung
“Conspiracy of the Cells of Fire” sowie die Verhaftung des
italienischen Anarchisten Alfredo Bonnano auf griechischen Boden.
In
der Folge wurde ohne jegliche Anhaltspunkte der für seine alternativen
Treffpunkte und polizeifreien Zeitvertreib bei vielen (v.a.) jungen
Menschen beliebte Bezirk Exarchia von der Staatsmacht umstellt und
immer wieder angegriffen. Im Mittelpunkt der Angriffe stand vor allem
der besetzte Park, zu dem sich die Cops öfter Zutritt verschafften, um
Leute festzunehmen.
Die Machtdemonstration der Staatsmacht sollte
für mehr als eine Woche anhalten, in der jede_r damit rechnen musste,
mehrmals am Tag kontrolliert zu werden oder willkürlichen Maßnahmen der
cops ausgesetzt zu werden. Vor allem Migrant_innen waren in dieser Zeit
von den Maßnahmen betroffen.
Die sozialistische Regierung zeigte
nun also kurz nach ihrem Wahlantritt, dass sie auf Konfrontation und
Machtspiele aus ist, was natürlich nicht unbeantwortet blieb.

“From borders to police departments, democracy murders” (Graffiti in Athen)

Ein
weiteres Ereignis, das die eh schon angespannte Situation auf die
Spitze trieb war die Ermordung des 25-jährigen pakistanischen Migranten
Mohammad Atif Kamran in der Polizeistation des Athener Vororts Nikaia.
Nicht nur allein die Tatsache der brutalen Ermordung, sondern auch der
Versuch, den Mord zu vertuschen, zeigen die erschreckenden Zustände
eines unkontrollierbaren Polizeiapparats im Freikorpscharakter.
Solidaritätsaktionen
wurden nach der Bekanntwerdung hauptsächlich von Anarchist_innen
organisiert – so z.B. eine sehr offensive Demo durch Nikaia, bei der
die lokale Polizeistation und die anwesenden MAT-Einheiten (Riot-Cops)
attackiert wurden. Als Reaktionen auf 8 Festnahmen, die gegen das
Vermummungsverbot verstoßen haben sollen, wurde im Anschluss der Demo
das Nikaier Rathaus mit der Forderung der sofortigen Freilassung
besetzt. In den nächsten Tagen zogen die Besetzer_innen in das
Zentralgebäude der Athener Uni (Propylea) um und legten den
akademischen Verkehr für mehrere Tage lahm. Somit konnte sowohl mehr
Öffentlichkeit für die Forderungen als auch ein offenes Forum gegen den
rassistischen Normalzustand geschaffen werden.
Die in den
folgenden Wochen immer wieder aufbrodelnden Aufstände in den
“Auffanglagern” an der ersten Grenze der EU muss dabei in der gleichen
Logik mitbedacht werden. Die Tötung und Diskriminierung von
Migrant_innen sind keine Ausrutscher o.ä., sie haben System und es
grenzt an ein Wunder, dass in den Lagern (hervorzuheben ist hier Pagani
auf Lesbos) bisher nicht mehr Menschen gestorben sind. Aus Platzgründen
möchte ich an diesem Zeitpunkt auf die Links auf folgender Seite
verweisen:  http://lesvos09.antira.info/background/
Hier
wird in mehreren Berichten die schier auswegslose Situation der
Flüchtlinge und Migrant_innen deutlich gemacht. Die enge Beziehung zur
migrantischen Gemeinde ist tief verankert in der anarchistischen Szene.
So gibt es in Exarchia viele gemeinsame Treffpunkte und auf der Straße
wird oft das proletarische Zusammengehörigkeitsgefühl ausgedrückt.

Smells like Junta-Spirit

Nachdem
der in linken Kreisen sehr bekannter Journalist Dimitris Papaxristos in
Exarchia Mitte Oktober festgenommen wurde und der Druck der Straße
durch wöchentliche Demonstrationen gegen die allgegenwärtige
Polizeipräsenz zunahm, sah sich die regierende PASOK – von
Aktivist_innen nun liebevoll BATSOK genannt (Batsoi = Bulle) – dazu
gezwungen, durch Zugeständnisse ihre Position zu festigen und ein
sauberes Image zu kreiieren. Kurzer Hand wurde daraufhin dem
Polizeichef der Dienst mit der Begründung, sich “Rambomethoden” zu
bedienen, quittiert. Weiterhin wurde das umstrittene Vermummungsverbot
(auf Demos) aufgehoben und angekündigt, dass es kein
Demonstrationsverbot am 6.12. – dem ersten Todestag des 15-jährigen
Alexis- geben werde. Ministerpräsident Papandreu versuchte damit, sich
eine reine Weste zu verschaffen und opponierenden Gruppen den Wind aus
den Segeln zu nehmen. Dieses Verhalten kann jedoch nicht darüber
hinwegtäuschen, dass er mit seiner Strategie der harten Hand (vorerst)
gescheitert ist und sich dem Druck der Straße beugen musste.
Die Besatzung Exarchias endete zeitweise. Doch ein Hauch von Junta-Spirit wehte in den Straßen von Athen immer noch mit.

Parastaatliche Angriffe

Nicht
zu unterschätzen sind ebenso die Aktivitäten faschistischer
Organisationen, die gerne mit der Polizei kooperieren bzw. ebenso oft
im Staatsdienst vertreten sind. Zu nennen ist hier zumindest die offen
faschistisch agierende Gruppierung “Golden Eagle”. Dass die Gefahr sehr
schnell real werden kann, zeigen zwei Angriffe auf anarchistische
Zentren mit Molotovs im Herzen Athens Anfang November. Der Sachschaden
war gering. Doch zeigt es, dass der Staat durch sein Verhalten und
seine Rhetorik aggressive Gruppierungen großzieht und ihnen freie Wahl
bei der Wahl ihrer Mitteln gibt und sie schlussendlich bei Aktionen
schützt.
Den (bisherigen) Höhepunkt solcher Entwicklungen stellt
ein Bombenanschlag auf einen alternativen Treffpunkt in Thessaloniki
und ein rassistischer Angriff von ca. 50 Neofaschisten auf MigrantInnen
in Athen dar. Wie schon im letzten Dezember und in einer Demonstration
Mitte Juli gesehen, arbeiten Faschisten und Polizei Hand in Hand
zusammen und versuchen sich beide als Beschützer des griechischen
Volkes vor “anarchistischen Chaoten und Krawallmachern” aufzuspielen.
Es bleibt abzuwarten, wie sie sich in den nächsten Tagen verhalten
werden.

17. November

Dieser Tag zeigt symptomatisch
wie sehr die junge Geschichte Griechenlands auf die heutigen
Entwicklungen einwirkt. Ein kurzer Rückblick soll dies verdeutlichen.
Vor 36 Jahre endete der Aufstand im Athener Politechnio gegen die
Militärdiktatur mit der Ermordung von (mindestens) 20 toten,
rebellierenden Studenten. Dies war jedoch gleichzeitig der Anfang vom
Ende der Junta und die neue griechische Demokratie kann sich daher
hauptsächlich bei den Studenten für ihr Bestehen bedanken.
Die
Unis gelten seitdem nicht nur als Gedenkorte an die Folgen
militärischer Unterdrückung, sondern auch als Schutzräume gegen
polizeilich-staatliche Angriffe. Ein freier Meinungsaustausch und die
Entwicklung einer freien Bildung ohne das Einwirken jeglicher
repressiver Maßnahmen sollte durch das Uni-Asylum geschützt werden.
Dieses
sieht sich nun mehr und mehr staatlichen Einschränkungen ausgesetzt. So
wurden in den Tagen vor dem 17. November viele Universitäten von den
jeweiligen Rektoren geschlossen, um Besetzungen vorzubeugen. Auch wurde
die Polizei um Hilfe gebeten und umstellte z.B. die Panteios-Uni.
Die
Stimmung auf der Gedenkdemonstration am 17.11. war daher sehr gereizt.
Nicht nur die Gefährdung des Asylums, sondern auch die Besetzung
Exarcheias, die steigende Überwachung öffentlicher Plätze, das
willkürliche Vorgehen der Polizeieinheiten und das repressive Verhalten
der Regierung gegen jeglichen Widerstand ließ den Bogen zwischen den
aktuellen Ereignissen zur militärischen Diktatur leicht schließen.

“Die Junta endete nicht 73” (Fronttransparent des anarchistischen Blocks)

Die
Demo war erwartungsgemäß gut besucht. Offizielle Zahlen bewegen sich um
die 15000 Teilnehmer_innen. Der anarchistische Block war mit ca.
3500-4000 Leuten präsent, was deutlich zeigt, dass auch in den nächsten
Tagen eine breite Bewegung agieren wird und sich nicht nur auf wenige
beschränkt. Es nahmen weiterhin unzählige kommunistische und (im
weitesten Sinne) linke Studentenorganisationen teil. Sehr bemerkenswert
ist, dass sich direkt hinter dem anarchistischen Block die PASP
(Studentenorganisation der PASOK) organisierte. Einige waren mit Helmen
und Knüppel ausgerüstet, um Hilfspolizei zu spielen und die Leute aus
der Demonstration am Handeln zu hindern. Ebenso hat die KKE
(kommunistische/stalinistische Partei, die immerhin 8% bei der Wahl
gewann) beste Kontakte zu den Cops und drohte, für Ruhe zu sorgen. Dies
zeigt sehr deutlich, dass es viele Gründe für Anarchisten in
Griechenland gibt, außerhalb der größtenteils restriktiven Linken zu
agieren.
Nachdem es auf der Demo vergleichsweise ruhig blieb,
eskalierte die Lage als ein Genosse festgenommen wurde. Viele
Umstehende versuchten, seine Freilassung zu erzwingen, was leider
erfolglos blieb. Als Reaktion darauf wurde eine Einheit der
berüchtigten Delta-Einheiten angegriffen. Daraufhin nahm die Polizei
insgesamt 277 Personen in Gewahrsam, die größtenteils unbeteiligt
waren. 8 von ihnen wurden festgenommen. Nachdem sich der Rest der Leute
nach Exarchia zurückzog, versuchten die Cops unter Ausschluss der
Medien, in den Bezirk einzudringen. Dies wurde mit Barrikadenbau und
heftigen Einsatz von Steinen und Molotovs zu verhindern versucht.

Remember, remember… the 6th of December

Am
kommenden Sonntag steht nun der erste Jahrestag der Ermordung Alexis’
an. Die Mobilisierungen laufen auf Hochtouren. Doch bleibt das nicht
der einzige Event im Dezember. Beinahe täglich werden Demonstrationen,
Vorführungen etc. stattfinden. Auch der Prozess gegen Alexis’ Mörder
wird am 15.12. in der Provinz weit entfernt von Athen stattfinden. Der
heiße Dezember wird dann spätestens am 3.12. mit einer Solidemo für
einen inhaftierten Anarchisten in Athen beginnen.
Fakt ist, dass
sich an den Zuständen der griechischen Gesellschaft nicht viel geändert
hat und somit ständig einen Grund gibt, auf die Straße zu gehen. Der
trügerisch Normalzustand, der nach letztem Dezember wieder eingekehrt
ist, bietet somit Anlass, auch in den diesjährigen Dezembertagen zu
versuchen, das System aus seine Fugen springen zu lassen und dauerhaft
öffentliche Räume zu besetzen. Die Stimmung dafür ist sehr gut.

Doch
ist die griechische Bewegung ebenso auf internationale Solidarität wie
im letzten Jahr angewiesen. Ich hoffe daher, dass der Bericht ein wenig
von der Lage und Stimmung vor Ort übermitteln konnte und der Spirit von
den Straßen Griechenlands auch im übrigen Europa Einzug erhält.

Το πάθος για την λευθερία είναι δυνατότερο απ’όλα τα κελιά.
Die Leidenschaft für die Freiheit ist stärker als alle Zellen

Informiert euch in den nächsten Tagen auch auf folgenden Seiten:

occupiedlondon.org/blog
athens.indymedia.org
libcom.org
tearsandangergreece.blogsport.de

Anmerkungen und Vervollständigungen sind gern gesehen..

Posted in balkan region, deutschsprachig, General.