Gestern, am Montagabend des 16.11., wurde der 26jährige Antifaschist
Ivan ?Vanya Kostolom? Khutorskoy im Eingang seines Wohnhauses in der
Khabarovsk Straße im Osten von Moskau erschossen; Berichten zufolge
wurden zwei Schüsse auf seinen Kopf abgegeben.
Vanya war spielte eine wichtige Rolle in der russischen Antifa-Bewegung,
und ich bin sicher, dass viele Leute in den kommenden Tagen, Monaten und
Jahren ihre Erinnerungen an ihn niederschreiben werden. Aber im Moment
sind die Meisten seiner Freunde zu wütend und entsetzt über den Verlust
dieses Freundes und Genossen.
Meine frühsten Erinnerungen an Vanya gehen auf 2004 zurück, als ich
gerade einen anarchistischen Infostand auf einem Konzert im R-Club
durchführte. In dieser Zeit ging ich nicht gerade häufig zu Konzerten,
weswegen mir die meisten Gesichter dort unbekannt waren. Das war die
Zeit bevor die Hardcore-Szene sich wegen des Mordes an Sasha Ryukhin
vollständig in den Untergrund zurückzog. Also war dieses Konzert noch
offen beworben und jeder hätte dort rumlaufen können. Deshalb war ich
ein wenig argwöhnisch über den Haufen an Skinheads, besonders über
diesen einen großen Typen. Aber es gab keinen Grund zur Besorgnis;
gerade weil er, Vanya, dort war, konnten alle sich sicher sein, dass er
sich um mögliche Probleme kümmern würde.
Ich weiß nicht, woher Vanya seinen Spitznamen ?Kostolom?
(?Knochenbrecher?) hat. Wahrscheinlich war das ironisch gemeint, weil es
nur wenige gibt, die so freundlich und humorvoll sind, wie Vanya es war.
Das letzte Mal, als ich Vanya traf, war auf dem
Mixed-Martial-Arts-Turnier ?No surrender? am 10. Oktober 2009 in Moskau.
Das Turnier wurde abgehalten in Gedenken an einen anderen ermorderten
Antifaschisten, Fyodor Filatov. Vanya war, wie auf dem Photo zusehen
ist, der Schiedsrichter. Vanya war sehr gut in Sambo, einer sovietischen
Kampfkunst, die immer noch sehr populär ist. Er war erfolgreich bei
Turnieren und stieg bis zum russischen Meisterkandidaten (degree of
Candidate for Master of Sports of Russia) auf. Armdrücken war seine
andere Disziplin. Diese Umstände machten ihn für die Nazis zu einem
besonders gefürchteten und gehassten Gegner, gerade weil er nicht in ihr
Feindbild des Junkies oder Alkoholikers hineinpasste. Nur wenige Nazis
konnten es in einem fairen Kampf mit Vanya aufnehmen. Deshalb griffen
sie ihn mit Rasierklingen, Schraubendrehern und Messern an, und als
nicht mal das funktionierte, griffen sie zur Schusswaffe.
Davor hab ich ihn noch im vergangenen Mai getroffen, draußen vor einem
Ska-P-Konzert. Niemand von meinen Freunden hatte 30 Euro für das Konzert
dieser spanischen Ska-Punks über. Wir entschieden uns vor dem Eingang
kostenlos Antifa-Material zu verteilen. Auf dem Poster, das das Konzert
bewarb, war die Band in Antifa-T-Shirts zu sehen ? keine große Sache in
Spanien, aber in Moskau müsste ein Musiker dafür vielleicht mit seinem
Leben bezahlen. Es war nicht weniger gefährlich vor der Konzerthalle
Material zu verteilen, als in den Straßen irgendwelchen Leuten Flyer in
die Hand zu drücken. Wir fragten Vanya und andere Leute, ob sie
aufpassen könnten.
Offensichtlich waren viele nur beim Konzert, um Party zumachen, denn die
Reaktion der Semi-yuppie Clubgänger und Punks war sehr unterschiedlich.
Dann gab es einen Anruf ? ein paar Kilometer weiter südlich war eine
Gruppe von Genossen in Schwierigkeiten mit Nazis geraten, von denen sie
nun verfolgt würden. Unsere Beschützer mussten dort hin um sie zu
unterstützen. Ich dachte nicht im entferntesten daran, mich heute abend
in einen Kampf zu begeben, aber ich hatte keine andere Wahl ? einfach wo
anders hinzugehen, nachdem ich an hunderte von Leuten Material verteilt
hab kann sehr leicht mit einem 5-Zoll-Klinge zwischen den Rippen enden.
Also ging ich mit.
Später trafen wir uns mit den anderen Leuten und bildeten eine Gruppe.
Vanya ermahnte die Leute nicht zu früh auf die Nazis zuzulaufen, nur um
nicht zu riskieren, dass sie zu zu früh ihre Unterzahl erkannten und
dann entwischen würden. Aber die Leute konnten sich nicht zurückhalten.
Zu weit waren die Nazis weg, als sie uns erblickten und flohen deshalb
in Seitenstraßen und über Zäune, alle von ihnen entwischten. Ich war in
schlechter Form, weshalb ich nicht so gut mit den anderen mithalten
konnte. Vanya lief überhaupt nicht los, weil es für ihn aussichtslos
war. Also blieben wir mit ein paar Frauen zurück, die nicht vorn dabei
sein wollten, zusammen mit ihnen suchten wir die umliegenden Straßenzüge
nach Nazis ab.
Am selben Abend gab es noch weitere Aktionen, einige Hintern wurden
versohlt, einige weitere verpasste Gelegenheiten. Es würde nicht lohnen
das en detail zu erzählen ? während ich ein ungewöhnlicher Gast in
dieser Gruppe war, war das Naziklatschen für Vanya so routinemäßig wie
früh morgens aufzustehen. Man könnte hunderte dieser Geschichten aufzählen.
Seit dem Jahr 2000 war Vanya ein bekanntes Gesicht in der Punk-Szene.
Auf Anti-Antifa-Websites sind viele Bilder von ihm veröffentlicht, auf
dem ältesten Foto hatte er noch einen Irokesen-Schnitt. Er gehörte nicht
zu den ersten Moskauer Antifas, die im Frühling 2002 zusammenkamen, aber
als er ein oder zwei Jahre später dazu kam, blieb er endgültig.
Manchmal, nach solchen tragischen Ereignissen, scheint es zu einer
regelrechte ?Leichenjagd? (body-snatching match) zu kommen, bei welcher
jeder zu einem Märthyrer werden will ? damals war das mit Stanislav
Markelov der Fall, der, als er noch lebte, wie ein Witzbold den
Anarchisten erzählte, er wäre Sozialdemokrat, und den Trotzkisten und
Stalinisten, dass er ein Anarcho wäre, nur um alle zu enttäuschen.
Jede politische Zuordnung, die man Vanya jetzt noch anzugedeihen
gedenkt, würde daneben gehen, weil einfach jede Gruppe oder Clique ihn
als einen der Ihren begreifen würden, so gut wie jeder war von ihm
angetan. Vanya selbst fühlte sich den RASH zugehörig, was die
unpolitischen und patriotischen Moscow Trojan Skinheads nicht davon
abhalten würde, ihn als einen der Ihren zubegreifen. Für die Anarchisten
war er ein Anarcho, und das ist nicht mal falsch, denn Vanya hatte
anti-autoritäre und soziale Einstellungen und war jederzeit bereit, die
Anarchisten bei Veranstaltungen zu unterstützen. Aber er lebte nicht für
den Aktivismus ? er lebte für die Straße und für Punk Rock.
Er war scharf wie eine Rasierklinge, er beendete sein Jurastudium an der
Russian State Social University mit einem ?Roten Diplom?, was die größte
Auszeichnung bedeutet, die ein Student aus dem ehemaligen UdSSR-Gebiet
erhalten kann. Weil er einer der wenigen Juristen in der Szene war,
hoffte ich manchmal, er würde sich bald zu den anderen politischen
Anwälten gesellen. Stas Markelov hatte ständig Leute aus unserer
Bewegung als Mandanten und konnte diese Fälle schwer allein bewältigen.
Vanya und Stas kannten sich gut, und Vanya organisierte manchmal den
Saalschutz für Pressekonferenzen von Stas. Meistens arbeitete Vanya aber
als Anwalt im Zentrum ?Deti ulitsy? (?Kinder auf der Straße?), in
welchem mit Straßenkindern und anderen Kindern mit Problemen gearbeitet
wird.
Natürlich werden sich einige fragen, warum er an diesem Abend zu seiner
Wohnung nachhause ging, angesichts der Tatsache, dass seine Adresse nun
auf Internetseiten verbreitet wurde. Vanya hielt sich häufig an anderen
Orten auf. Kann sein, dass er wegen seiner Familie nachhause musste,
kann aber auch sein, dass er dem Tod ins Gesicht spuckte, immerhin hatte
er mehrere Mordanschläge überlebt.
Vanya wurde das erste mal im Jahr 2005 angegriffen, man zerschnitt
seinen Kopf mit Rasierklingen. Der Überfall wurde damals mit einer
Überwachungskamera aufgenommen und für eine Doku des Senders NTV
benutzt, die man hier ansehen kann:
http://rutube.ru/tracks/663741...cc8558fb5d
Darauf, im Herbst 2005, versuchten sie ihn zu töten, indem sie mit
geschärften Schraubendrehern auf seinen Hals einstachen. (eine sehr
populären Waffe bei den russischen Nazis, weil man damit tiefer
zustechen kann, als mit einem Messer). Jeder dieser Stiche hätte tötlich
sein können, aber wundersamerweise wurde keine Aterie verletzt und er
überlebte. Dieser Überfall wurde auch von Überwachungskameras gefilmt,
aber die Bullen waren sogar so wenig an Ermittlungen zu diesem Fall
interessiert, dass sie sich nicht mal die Aufnahmen ansahen! Mehr als
ein halbes Jahr dauerte es, bis Vanya wieder vollkommen genesen war.
Im Januar diesen Jahres erhielt Vanya bei einem Straßenkampf einen
Messerstich in seinen Bauch. Diese Wunde war, genauso wie die anderen
tödlich, aber er überlebte. Und jetzt, nachdem alles andere versagt hat,
griffen die Nazis zur Schusswaffe ? letztendlich haben sie ihn tot gekriegt.
S2W
Vanyas Vater verstarb vor ein paar Jahre, Vanya lebte bei seiner Mutter
und seiner Schwester. Jede Spende für die Freunde oder Familie ist
willkommen, um die Begräbniskosten zu decken. Ihr könnt auf das
Yandexkonto 41001411894609 überweisen oder an das Anarchist-Black-Cross
in Moskau http://www.avtonom.org/donate. Schreibt ihnen aber zuvor, was
ihr ihnen überweist und dass es für die Freunde und Angehörigen von
Kostolom gedacht ist: abc [at] riseup [dot] net
Quelle:
http://avtonom.org/index.php?nid=2857